Das Ende der Wahrheit oder: warum es keine allgemeine Theorie des Managements geben kann, das aber auch nicht schlimm ist

Heidelberg, den 19.4.2023. Am 14. April 2023 schießt die europäische Weltraumagentur ESA die unbemannte Raumsonde Juice ins All. Nach einer Reihe komplizierter Flugmanöver trifft die Sonde in acht Jahren am Jupiter ein. Juice biegt dort ein in eine Umlaufbahn um den Jupitermond Ganymed und sucht nach Spuren von Leben. Ob die Sonde fündig wird, wissen die Physiker und Ingenieure nicht. Aber dass der Flugkörper nach seiner langen und verschlungenen Reise durch das Sonnensystem genau dort ankommen wird, wo er hin soll, daran zweifelt niemand. Die Berechnungen basieren auf anerkannten physikalischen Theorien.

In den vergangenen Jahrzehnten haben es die Physiker geschafft, unser Verständnis der unbelebten Welt in bemerkenswerter Weise auszubauen und zu vertiefen. Die Theorien über die Welt der Menschen können da nicht mithalten. So wäre jede Prognose einer Führungskraft über den exakten Zustand des Unternehmens in acht Jahren gewagt bis zur Lächerlichkeit. Die Theorien des Managements können und werden nie so gut sein wie die der Physiker. Das liegt in der Natur der Sache, über die gleich noch zu reden sein wird. Zugleich legt die Offenheit der Zukunft eine Reihe von Prinzipien und Handlungsweisen nahe, die die Welt des Managements doch ein wenig vernünftiger und planbarer machen.

Die Welt der Menschen und ihrer Organisationen ist weniger berechenbar als die Welt der Physiker. Das liegt daran, dass Menschen ihr Zusammenleben gestalten und dabei viele Freiheiten haben. Unsere Werte, Normen und Übereinkünfte sind kontingent, das heißt, sie könnten auch anders lauten. Menschenrechte, Gleichberechtigung, Mitbestimmung sind ausgedachte Dinge, die ihre Gestaltungskraft erst dadurch gewinnen, dass Menschen an sie glauben bzw. mehrheitlich als Richtschnur ihres Tuns für sinnvoll, begründet oder vernünftig halten. Selbst eine für das Wirtschaftsgeschehen so bedeutsame Sache wie Geld existiert durch eine freiwillige Übereinkunft. Wie prägend Erwartungen sein können und wie mächtig enttäuschte Erwartungen sind, sieht man zum Beispiel dann, wenn ein börsennotiertes Unternehmen einen Rekordgewinn vermeldet, der Aktienkurs aber dennoch in den Keller rauscht, weil Anleger noch viel bessere Zahlen erwartet hatten.

Unsere sozialen Systeme sind gestaltet, sie haben eine Geschichte und könnten auch anders beschaffen sein. Und tatsächlich waren sie in der Vergangenheit anders beschaffen, und sie werden es in der Zukunft auch sein. So betrachtet, kann die Gestaltung und Steuerung von zweckorientierten sozialen System keine exakte Wissenschaft sein. Die Zukunft ist offen, und die Entscheidungen im Hier und Jetzt sind in ihren Konsequenzen nicht immer klar. Zugleich wird von den Chefinnen und Chefs der jeweiligen Organisation erwartet, den Zweck, zu dem die Organisation dient, zu erfüllen. Im Fall von Unternehmen bedeutet dies, dauerhaft Gewinn zu erwirtschaften und auf diese Weise auch die eigene Existenz zu erhalten. So klar der Auftrag sein mag, so offen ist der Weg. Spektakuläre Firmenpleiten legen davon Zeugnis ab, dass auch kluge Leute schlechte Entscheidungen treffen. Dennoch hat die Managementlehre eine Reihe von Prinzipien hervorgebracht, die die Erfolgschancen im Management erhöhen:

  1. Halte es stets für möglich, dass Du falsch liegst.
  2. Sage, wo Du hin willst, aber nicht, welchen Weg das Team nehmen muss.
  3. Mache Dein Handeln überprüfbar, lege Rechenschaft ab.

In der zeitgenössischen Philosophie wird die wahrheitsskeptische Haltung, die sich in Prinzip 1 ausdrückt, häufig mit dem sog. Kritischen Rationalismus verbunden. Der Philosoph Karl Popper (1902 – 1994) hat die Position maßgeblich entwickelt. Popper hält allgemeine Gesetzmäßigkeiten in der Wissenschaft generell für unbeweisbar. Positive Wahrheiten sind unmöglich, allenfalls unserer Irrtümer können wir sicher sein, wenn es gelingt, Gegenbeispiele zu finden. Popper erweitert seine wissenschaftstheoretische Position später zu einer allgemeinen Ideologiekritik. Politische Ideologen und religiöse Dogmatiker sind für ihn gefährliche Feinde einer offenen Gesellschaft. Er setzt den Gewissheiten eine Haltung entgegen, „die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden“ (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen 2003, S. 281).

Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Hochmut haben schon oft schwere Managementfehler ausgelöst. Je unübersichtlicher und komplexer die Situation, desto mehr empfiehlt sich eine Haltung intellektueller Bescheidenheit. Es hat seinen guten Sinn, wenn sich Strömungen der Managementlehre auf Popper berufen.

Ein Ziel ist ein vorweggenommenes Ergebnis, Führen mit Zielen ein Managementansatz, für den sich seit der Antike Gewährsleute finden. Der römische Philosoph Seneca (1 – 65) sagt es in einem Brief so: „Wenn man nicht weiß, welchen Hafen man ansteuert, ist kein Wind günstig.“ Zu einem in sich schlüssigen und vollständigen Managementansatz entwickelt hat das Führen mit Zielen seit den 50er Jahren der US-Ökonom Peter Drucker (1909 – 2005). Der Ansatz hat sich in einer zunehmend komplexer werdenden und globalisierten Welt als leistungsstärkstes und anpassungsfähigstes Führungsmodell erwiesen. Es steht im Kern vieler Managementlehren. Aus der sog. Sank Galler Managementlehre ist es ebenso wenig wegzudenken wie aus den Managementstudiengängen der Hochschule der Wirtschaft für Management in Mannheim.

Jede Führungsentscheidung kann sich als falsch erweisen. Selbst eine ausnehmend gute Entscheidung kann sich als korrekturbedürftig entpuppen, wenn sich Umstände ändern. Da Unternehmen offene Systeme sind, die im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt stehen, passiert das ständig. Führen heißt am Ende immer, auf schwankendem Boden zu gehen. Wenn sich die Unsicherheit, ob man gerade das Richtige tut, nicht völlig beseitigen lässt, dann hilft nur: Man muss die Folgen prüfen. Zu diesem Zweck nimmt die Sankt Galler Managementlehre Anleihen bei der Kybernetik. Kybernetik ist die Wissenschaft von der Steuerung unbelebter technischer System. In der Managementlehre wird der Ansatz erweitert auf Menschen in Organisationen.

Die zentrale Idee der Steuerungslehre ist es, Rückkopplungsschleifen zu etablieren. Dort wird ständig der Soll-Wert, das voreingestellte Ziel, mit dem Ist-Wert des gerade erreichten Zustands verglichen. Abweichungen lösen Korrekturen aus. In technischen Systeme geschieht das automatisch, im Management müssen Menschen sich einen Reim auf die Differenzen machen. Wichtig ist aber, dass die Abweichungen überhaupt sichtbar werden, denn nur dann kann gehandelt werden. Rückkopplungsschleifen sind die beste Antwort auf Unsicherheiten. Man findet Sie in ISO-Normen, Qualitätsmanagementzirkeln, in den Soll-Ist-Spalten von Budgets, in der Probezeit bei Neueinstellungen, aber auch in der Rechenschaftspflicht der Geschäftsführung gegenüber Aufsichtsrat oder Gesellschaftern.

Rechenschaft und Kontrolle sind unerlässlich. Denn dann wächst Vertrauen. Auch in sich selbst.

Fußnote: Der Autor hat am Beispiel des obigen Textes ein wenig herumprobiert. Die KI-Software ChatGPT fasst den Text so zusammen und rasiert ihn damit sehr scharf: „Am 14. April 2023 wird die europäische Weltraumagentur ESA die Raumsonde Juice zum Jupiter schicken, um nach Spuren von Leben auf dem Jupitermond Ganymed zu suchen. Das Management von Unternehmen ist weniger berechenbar als die Welt der Physiker, da die sozialen Systeme von Menschen gestaltet werden und viele Freiheiten haben. Es gibt keine exakte Wissenschaft, um soziale Systeme zu steuern. Chefs von Organisationen müssen den Zweck der Organisation erfüllen und dennoch offen für die Zukunft sein. Die Managementlehre hat Prinzipien hervorgebracht, die die Erfolgschancen im Management erhöhen. Eine wichtige Prinzip lautet, dass es stets möglich ist, dass man falsch liegt. In der zeitgenössischen Philosophie wird diese Haltung oft mit dem Kritischen Rationalismus von Karl Popper verbunden. Eitelkeit, Selbstüberschätzung und Hochmut sind Feinde einer offenen Gesellschaft.“

Wie schön ist es in Dürrenäsch

Bahngeschichte XIII spielt an einem geschlossenen Bahnübergang. Die Gedanken des Betrachters reisen mit den Zügen nach Süden.

Zwischen Heidelberg und Mannheim liegen 20,8 Kilometer mit dem Rad. Auf den letzten Metern, die Hochschule schon in Sichtweite, legt sich ein Hindernis quer. Am Bahnübergang von Mannheim-Neckarau sind in den letzten Monaten oft die Schranken unten. Wo sonst nur S-Bahnen und Güterzüge rollen, fahren ICEs und TGVs auf ihrer Umleitungsstrecke nach Stuttgart. Wenn sich die Züge von links und rechts unglücklich abwechseln, bilden die Schranken für 20 Minuten eine nervenzehrende Barriere.

Die Minuten kriechen. Autos stauen sich bis zur Hauptstraße, der Dozent wird nervös, ob er es noch pünktlich zur Vorlesung schafft, die in diesen Tagen ein Microsoft-Teams-Meeting ist. Wenn aber die Sonne scheint und der Kopf nach 35 Minuten an der frischen Luft angenehm frei und durchlüftet ist, enteilen die Gedanke in die Ferne. Hinter den getönten Scheiben sind nur einzelne Reisende zu sehen. Die Fernzüge rollen im Sommer 2020 fast leer durchs Land. Wohin zieht es die Menschen? Was ist wichtig genug für eine Bahnfahrt in einer Zeit der sozialen Isolation, um ein Virus einzudämmen? Man weiß es nicht. Güterzüge geben den Gedanken konkreteren Halt. Die Tanks der Bertschi AG sind nach Dürrenäsch in der Schweiz unterwegs. Der Herkunftsort trägt die Punkte auf dem ä als eleganten Querstrich. Warum die Punkte auf dem ü sitzen bleiben dürfen, bleibt das Geheimnis der Designer.

Was ist das für ein Ort, an dem das Logistikunternehmen seinen Sitz hat? Wie schön ist es in Dürrenäsch? Das Internet wird es wissen. Aber nachzuschlagen verbietet sich. Die Güterzüge sollen ihr Geheimnis bewahren. Die Bauzeit ist vorbei. Seit November haben die Tanks der Bertschi AG aus Dürrenäsch die Strecke wieder für sich. Die Gedanken des Dozenten reisen mit ihnen.

Frank Stäudner

Gedanken am Grab

Mein bester Freund hat sich das Leben genommen. Von ihm zu erzählen, holt ihn zurück ins Leben. Hier sind einige persönliche Gedanken und Geschichten.

Ich soll über meinen besten Freund U[..] reden. U[..], von dem jetzt ein Häufchen Asche in einer – wahrscheinlich – kompostierbaren Urne übrig ist. Da muss ich meine Überforderung bekennen. Mir ist nach Schreien und Heulen, aber nicht nach Reden.

So eine Trauerfeier mit ihren Ritualen und Reden soll ja die Schmerzen lindern und den Verlust erträglicher machen. Bei mir macht sie in diesem Moment den Schmerz nur größer.

Mir ist nach Schreien und Heulen, aber ich soll über meinen besten Freund U[..] reden, von dem jetzt nur noch ein Häufchen Asche in einer kompostierbaren Urne übrig ist.

Vielleicht fange ich einfach an.

U[..] und ich haben beide Physik studiert. Aus U[..] wurde aber, anders als aus mir, ein richtiger Physiker. Seine Neugier und seine Experimentierlust kannten wenige Grenzen. Er dachte unglaublich gerne über die Welt nach, und dabei entstanden wunderbare Gedanken. Gespräche mit ihm waren immer schön und bereichernd.

Ich erinnere mich an eine Diskussion über den freien Willen auf U[..]s Balkon bei Bier (wir beide) und Zigaretten (er). Ob es den gäbe, und wenn nicht, woran man das merken könnte.

Wir kamen zu dem Schluss, dass es für die menschliche Existenz egal ist, ob wir frei seien. Es genüge, wenn wir alle den Glauben an die Freiheit teilen und unsere Leben danach einrichten.

Wir haben dann über Parasiten gesprochen, die das Verhalten ihrer Wirte beeinflussen. Den Gedanken, wir Menschen könnten von solchen Parasiten befallen werden, fanden wir interessant.

Der kleine Leberegel ist so ein Parasit. Menschen befällt er nur sehr selten.

Der Egel hat einen komplizierten Vermehrungszyklus mit mehreren Zwischenwirten. In einem Schritt muss die Larve aus einer Ameise zurück in ein Schaf. Die Larve schafft das, indem sie in das Ameisengehirn eindringt und die Ameise willenlos macht. Die Zombie-Ameise erklimmt einen Grashalm und beißt sich dort fest, bis sie von einem Schaf abgeweidet wird und so im Schafmagen landet. Da will die Larve hin. U[..] fand das alles irre interessant.

Über seine Abgründe und Nöte hat U[..] kaum gesprochen. Von seiner Depression ahnte ich mehr, als ich wusste. Jetzt habe ich ein Bild von ihr. Ich stelle ich sie mir wie eine schwarze Made vor, die in einem Kopf sitzt.

Aber ich soll nicht von mir reden, sondern über meinen besten Freund U[..], von dem jetzt nur noch ein Häufchen Asche in einer kompostierbaren Urne übrig ist.

Eine andere Geschichte. U[..] und ich hatten nach meinem Wegzug aus Berlin eine typische Männerfreundschaft. Typisch, weil die Freundschaft mit wenig Nahrung auskam. Gelegentliche Telefonate, E-Mails, Kurzbesuche in Berlin.

Geburtstage hatten mit Geringschätzung behandelt zu werden. Trotzdem gelang es uns manchmal – und das war wirklich zufällig! – an diesen Tagen zu telefonieren.

Am 12. Juli haben wir geredet. Wir sprachen über den Coronalockdown und die Veränderungen an den Hochschulen. Ich hatte da gerade eine anstrengendes Onlinesemester hinter mir. U[..] erzählte von den Küchentischexperimenten, die er sich für seine Studierenden ausdachte.

Ein Experiment: Die Studierenden sollten eine Bierdose auf dem Rand balancieren, Schritt für Schritt austrinken und nachmessen, wie sich der Schwerpunkt verschiebt. U[..] meinte dann noch, dass er die Lösung mathematisch berechnen wollte. Das sei aber schwieriger als gedacht gewesen. An den Differentialgleichungen habe er sich die Zähne ausgebissen. Er hätte aber einen koreanischen Kumpel gefunden, der die Rechnung machen konnte.

So war U[..].

War er so? Etwas stimmt mit diesem Satz nicht. U[..] ist noch da.Wenn wir über ihn reden, dann machen wir ihn wieder ein wenig lebendig.

Frank Stäudner, im Oktober 2020

Brief an meine Nichte

Ich sollte zur Konfirmation meiner Nichte (fast 14) einen Beitrag zu einem von der Verwandtschaft gestalteten Konfirmationsbuch leisten. Hier ist das (möglicherweise nicht völlig altersgerechte) Ergebnis. Es enthält Prisen von Existenzphilosophie und Aufruf zur Rebellion gegen Autoritäten.

Liebe M.,

in den Augen der Kirche wirst Du in wenigen Tagen erwachsen sein. Mit der Konfirmation nimmt die Kirche dich in die Gemeinschaft der „großen“ Gläubigen auf. Ich bin ein wenig ratlos, was ich Dir sagen soll. Denn einerseits ist Gemeinschaft etwas sehr Wichtiges und ich freue mich für Dich, dass Du diese Gemeinschaft erleben darfst; ich wünsche Dir von ganzem Herzen, dass Du den Wert dieser Zugehörigkeit spüren kannst.

Wir können als Menschen nicht gut auf Dauer alleine sein. In fast allem, was wir tun, sei es in der Familie, gegenüber Freunden, Geschwistern, in der Schule, später dann in Ausbildung, Studium, Beruf und Partnerschaft sind wir auf andere Menschen angewiesen, und es hängen andere Menschen von uns ab. Aus diesen vielen gegenseitigen Abhängigkeiten kann Freude ebenso wie Leid erwachsen, auf jeden Fall entsteht aber eine Verantwortung für unser eigenes Tun dort, wo es andere Menschen berührt. Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, wie ich selbst mit 13 über diese Dinge gedacht habe. Es ist mir nicht recht gelungen. Vermutlich habe ich in dem Alter noch gar nicht darüber nachgedacht. Sollte es mir gelingen, Dich mit diesen Zeilen zu eigenen Gedanken über das Leben und seinen Sinn anzuregen, so wäre ich darüber sehr froh.

Andererseits ist dein Onkel ein gottloser Mensch. Er glaubt weder an ein Leben nach dem Tod noch an einen Gott. Er glaubt daher (Beweise hat er natürlich nicht!), dass die Kirche auf einem komplett ausgedachten Sachverhalt beruht. Ihm ist der Wert von Religion allerdings bewusst. Sie hilft uns, unser Zusammenleben zu organisieren, sie hilft uns, dem Leben einen Sinn zu geben, sie tröstet uns, wenn wir uns dagegen empören, dass wir sterben müssen. Ich selbst halte die Antworten der Kirche aber, bitte verzeih das harte Wort, für einen Selbstbetrug. Wir reden uns etwas ein, damit uns das Leben leichter wird. Darin ist der Mensch ziemlich gut: Wir denken uns etwas aus, und indem wir es uns ausdenken, wird es in dem Moment wirklich, in dem wir unser Handeln daran ausrichten.

Liebe M., ich will Dir Deine schöne Konfirmationsfeier nicht verderben. Und zugleich wünsche ich mir, dass Du dich nicht vorschnell mit einfachen Antworten zufrieden gibst. In Deinem Alter entscheiden noch die Erwachsenen für Dich. Deine Eltern und Deine Lehrer sagen, was richtig ist, und Du musst Dich fügen. Das wird noch eine Weile so bleiben. Und es ist auch okay. Denn es geschieht, allermeistens jedenfalls, wohlwollend und fürsorglich und in Deinem Interesse, allerdings in Deinem Interesse, so wie es die Erwachsenen sehen. Das kann schon mal davon abweichen, wie Du selbst die Dinge siehst, und das kann ganz schön nerven.

Dennoch möchte ich Dich ermutigen: Finde Deine eigenen Antworten auf die wichtigen Fragen des Lebens. Fange jetzt damit an. Es sind Fragen wie: Wozu bin ich da? Welchen Sinn will ich meinem Leben geben? Was ist mir wichtig? Sie zu beantworten ist alles andere als leicht. Aber da es Fragen sind, die sich jeder Mensch stellt, der nicht völlig vernagelt ist, wirst Du in Literatur, Philosophie, Geschichte, aber auch in Gesprächen mit Familie und Freunden viele kluge Antworten finden können. Doch bedenke: Es sind die Antworten der anderen. Finde Du deine eigenen.

Dein Onkel Frank

Heilige Kühe

Universitäten pochen auf die Exklusivität ihres Promotionsrechts. Wie gut sind ihre Gründe?

Frank Stäudner

„Das Promotionsrecht an Fachhochschulen ist ebenso überflüssig wie schädlich.“ Das sagt der ehemalige Berliner Wissenschaftssenator und Universitätspräsident George Turner. Er ist damit nicht allein. Universitätsprofessorinnen und –Professoren und ihre institutionellen Vertreter sind sich in weit überwiegender Zahl einig, dass die Verleihung eines Doktortitels das alleinige Privileg der Universitäten bleiben müsse. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, hielt Ende 2016 die Verleihung des Promotionsrechts an die Fachhochschule Fulda für „eine törichte Entscheidung“. Differenzierter äußerten sich die Akademien der Wissenschaften im Juli 2017 in einer Stellungnahme. Zwar stellen auch die Gelehrtenvereinigungen klar: „Ein autonomes Promotionsrecht für Hochschulen für Angewandte Wissenschaften wird von den Akademien nicht befürwortet.“ Aber die Autoren erkennen an, dass die Fachhochschulen und ihre Absolventen ein berechtigtes Interesse an einer Öffnung der Wege zur Promotion haben, das nicht einfach mit Verweis auf die Tradition weggewischt werden kann. Was aber sind die Gründe dafür, dass die Universitäten ihr angestammtes Recht so verbissen verteidigen? Welche Argumente führen die Verteidiger des Promotionsrechts an? Und vor allem: Wie gut sind sie?

Immer wieder lesenswert sind in diesem Zusammenhang die schon etwas älteren Empfehlungen des Wissenschaftsrates über die Vergabe des Promotionsrechts an nichtstaatliche Hochschulen (Drs. 9279-09). Die Autoren erinnern erst einmal daran, was eine Promotion überhaupt ist: „Kernbereich der Promotion ist die Dissertation. Die Dissertation stellt eine eigenständige Forschungsleistung dar, die das Wissen in einem bestimmten Wissenschaftsgebiet verändert und erweitert. […] Dies setzt sowohl ein systematisches Verständnis der jeweiligen Forschungsdisziplin als auch einen Überblick über benachbarte Forschungsgebiete voraus. Typischerweise wird die Promotion daher an der Universität als der die Gesamtheit der Wissenschaften integrierenden Institution abgelegt.“ (WR, a.a.O. S. 7) In Deutschland verleihen die Bundesländer das Promotionsrecht an Universitäten und gleichgestellte Hochschulen. Das Recht ist damit an die Institution gebunden, nicht an einzelne in ihr tätige Personen.

Dies wird leicht übersehen, denn die Betreuer der Dissertation nehmen meist eine markante Rolle ein. Im Begriff des Doktorvater bzw. der Doktormutter findet diese Rolle ihren sichtbaren Ausdruck, die Akademien sprechen von der „mentorenbegleiteten Individualpromotion“ als Grundmodell der akademischen Qualifikationsphase nach dem Erststudium. In der Praxis sorgt die Kombination aus dem Anspruch zu eigenständiger Forschung bei gleichzeitiger Aufsicht durch einen Betreuer regelmäßig für Konflikte. Aber das nur nebenbei.

Festzuhalten bleibt: Das Promotionsrecht ist ein Recht der Institution. Es gehört zu den konstituierenden Merkmalen der Universität. Nicht zuletzt begründet es den Anspruch der Universitäten auf eine exponierte Rolle im Wissenschaftssystem. Das Argument ist zwar zirkulär („Wir sind die Besten, weil wir die Besten sind.“). Aber weil die Position im System – zumal im Vergleich mit den Fachhochschulen – mit Privilegien einhergeht, gilt es sie zu verteidigen.

So weit zu den Gründen. Wie steht es um die inhaltlichen Argumente, warum nur Universitäten das Promotionsrecht ausüben können und sollen? Im Grunde sind es drei.

Das Traditionsargument. Dieter Lenzen sagt es so: „Wir dürfen nicht übersehen, dass das Recht Promotionen durchzuführen seit dem 14. Jahrhundert den Universitäten vorbehalten war.“ Nun ist es allerdings so, dass niemand den Universitäten das Promotionsrecht wegnehmen will. Dadurch büßt der Hinweis auf die historische Kontinuität an Überzeugungskraft ein. Dass etwas weniger wert dadurch wird, dass andere es auch haben, wäre zu prüfen. Außerdem wäre zu fragen, ob die Universität Hamburg heute noch viele Gemeinsamkeiten mit der Universität Padua der Frühen Neuzeit aufweist.

Zugestanden sein den Verfechtern des Traditionsarguments, dass das faktisch über Jahrhunderte Überlieferte zwar kontingent ist, also auch ganz anders hätte sein können, aber für das Selbstverständnis der Institution durchaus gestaltende Wirkungen haben kann und insofern wichtig ist.

Das Argument der fachlichen Breite. Wieder Lenzen: „Dass Universitäten dieses Privileg hatten, hatte den Grund, dass ein sehr breites Fächerspektrum angeboten wird, sodass eine Promotion in eine Vielfalt von Fächern eingebettet ist.“ Ähnlich sieht es der Wissenschaftsrat, wenn er die Fächervielfalt als konstituierendes Merkmal der Universität hervorhebt („ein im Wort „universitas“ angelegtes breites Fächerspektrum, WR, a.a.O. S. 10).

Mit Verlaub: Das klingt gut, ist aber Quatsch. Denn erstens sind die Fakultäten die bestimmenden Organisationseinheiten einer Universität, und der fachliche Austausch über die Fächergrenzen bleibt trotz aller Appelle zur Interdisziplinarität meist überschaubar. Für Wanderer zwischen den Welten, die etwa nach dem Studienabschluss für die Promotion von einer Fakultät in eine andere wollen, sind die Hürden sogar ausgesprochen hoch. Zweitens wird das so genannte Rigorosum zum Abschluss des Promotionsverfahrens mit Prüfung in drei unabhängigen Fächern an kaum einer Universität mehr praktiziert – vor allem deswegen, weil es für die Professoren zeitraubend und aufwändig wäre. Drittens bekämen kleine und mittlere Universitäten, die nicht das volle Fächerspektrum anbieten – also keine „Volluniversitäten“ sind – ein Problem. Sie erfüllen den gestellten Anspruch an „Universalität“ nämlich ebenso wenig wie Fachhochschulen. Andererseits prägen inzwischen Forschungscluster und andere virtuelle und institutsübergreifende Verbundstrukturen die Forschungstätigkeit weltweit. Es ist längst nicht mehr nötig, in Tübingen oder Göttingen alle Fakultäten in enger räumlicher Nähe zu haben, um den wissenschaftlichen Austausch zu ermöglichen. Das aber gilt für alle Hochschulen gleichermaßen.

Das Argument der funktionalen Differenzierung. Es geht ungefähr so: Universitäten bilden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus. Die Promotion ist ein Qualifizierungsschritt auf dem Weg zur eigenständigen Forscherpersönlichkeit mit dem Endziel einer ordentlichen Professur. Andere Hochschulen bereiten ihre Absolventen auf zwar anspruchsvolle, aber nicht im eigentlichen Sinn wissenschaftliche Fach- und Führungspositionen vor. Daher gehört die Promotion an die Universität – und nur dorthin.

Wer das Argument plausibel findet, dem sei erwidert: Die Sache hat mindestens zwei Haken. Erstens will von den knapp 30.000 Doktoren, die in Deutschland jedes Jahr ihre Promotion erfolgreich abschließen, nur ein Fünftel den Wissenschaftlerberuf ergreifen (vgl. https://www.academics.de/wissenschaft/nachwuchsprobleme_58476.html. Zweitens bilden Universitäten in ihren juristischen und medizinischen Fakultäten in erster Linie Praktiker aus.  Nähme man das Argument der funktionalen Differenzierung ernst, gehörte die Ausbildung von Richtern und Anwälten, Zahnärztinnen und Allgemeinmedizinern womöglich eher an eine Fachhochschule. Dass dem nicht so ist, hat seine Gründe in der Tradition. Jura und Medizin gehören nun einmal zu den höheren Fakultäten der mittelalterlichen Universität.

Alles in allem findet der Autor die Argumente für ein exklusives Promotionsrecht der Universitäten nicht sehr überzeugend. Vermutlich irrt er sich. Wer also bis hierhin durchgehalten hat, dem sei Dank abgestattet und die Einladung ausgesprochen, in die Diskussion einzutreten.

Bahngeschichte XII: Die nervigsten Mitreisenden

Bahnfahren ist wunderbar. Schöner als Autofahren allemal. Es gibt keine Mittelspurschleicher oder Drängler. Draußen ziehen schöne Landschaften vorbei. Man kann einen längeren Blick riskieren, ohne sich und andere in Lebensgefahr zu bringen. Sogar ein Restaurant rollt im Fernverkehr mit, dessen Preise zwar etwas gehoben sind, Qualität und Service aber meist stimmen. Wären da nicht die Mitreisenden. Gut, wenn man Ohrstöpsel dabei hat. Doch es gibt Bahnfahrer, die selbst dann den Waggon in einen Vorhof der Hölle verwandeln. Hier sind fünf Typen, aufsteigend nach ihrem Schrecken geordnet, und Tipps, wie man ihnen entgeht.

Platz 5: Der Alleinsitzer

Er hat seine Jacke und kleinere Gepäckstücke kunstvoll auf den Sitzen um sich herum verteilt. So hält er Mitreisende auf Abstand. Man will ja unbekannte Menschen nicht so nah an sich heran lassen, am Ende packt der Platznachbar noch ein streng riechendes Käsebrot aus oder offenbart ungewaschene Füße in stinkenden Socken.

Zum Ärgernis wird der Alleinsitzer in vollen Zügen. Da sollten doch besser die Koffer auf dem Boden sitzen und nicht die Leute. Grummelnd räumt der Platzhirsch nach mehrfachem Nachfragen den Platz frei und würdigt den neuen Nachbarn fürderhin keines Blickes. Das immerhin hat sein Gutes – der Alleinsitzer nötigt niemandem ein Gespräch auf. Besonders nervenstarke Leute verteidigen ihren Einzelplatz selbst an einem Freitagabend zwischen Frankfurt und Mannheim. Typischer Dialog:

Ich: „Verzeihung, ist hier noch frei?“

Er: Guckt weg.

Ich: „Verzeihung, ich rede mit Ihnen. Ist der Platz neben Ihnen noch frei?“

Er: „Tut mir leid. Ich warte noch auf einen Kollegen.“

Wie man ihm entgeht:  Auf dem Bord-WC.

Platz 4: Der Anfänger

Der Anfänger tritt meist paarweise auf. Beide sind jenseits der 60. Sie gehören zu der Hälfte der Deutschen, die noch nie Bahn gefahren ist (Quelle: Verkehrsforscher Heiner Monheim), und kommen aus Stuttgart. Er fährt dort Mercedes, aber der Besuch bei den Enkeln im Norden wäre mit dem Auto doch zu beschwerlich. Und es gibt ja den ICE 578, der die beiden ohne Umsteigen nach Hamburg bringt. Den haben die Kinder empfohlen und dem Bahnanfänger auch gezeigt, wie man ein halbes Jahr vor der Reise den Sparpreis bucht. Er überspielt die Unsicherheit in der unvertrauten Umgebung mit herrischer Geste. Typischer Dialog:

Er, vorwurfsvoll: „Verzeihung, junger Mann, aber Sie sitzen auf unserem Platz. Wir haben reserviert.“

Ich (50): „Sind Sie sicher, dass Sie im richtigen Wagen sind? Hier ist nämlich der Bahncomfortbereich für Vielfahrer.“

Er: „Ist das etwa nicht Wagen 3?“

Ich: „Nein, hier ist Wagen 9. Sie müssen bis ganz ans Ende des Zuges.“

Er: „Das ist ja mal wieder typisch Bahn, man findet sich gar nicht zurecht!“

(Brummend ab.)

Wie man ihm entgeht: Im Speisewagen reisen.

Platz 3: Der Dauertelefonierer

Er (es ist fast immer ein Mann) hat das Mobiltelefon schon beim Einsteigen am Ohr. Klar, Zeit ist kostbar. Wichtige Geschäfte können nicht warten. Er setzt sich in die Ruhezone, da stören die Mitreisenden nicht so, und telefoniert während der gesamten Fahrt. Unterbrochen wird der Redefluss nur durch Tunnel, denn da bricht die Verbindung ab. Typischer Monolog:

„Frau Meier, ich bin jetzt im Zug. Sagen Sie Dr. Schmidt, dass ich erst um 15 Uhr bei ihm bin. Und machen Sie Müller Beine, ich will seine Präsentation heute noch sehen.

(…)

Frau Meier, hören Sie mich noch?

(…)

Frau Meier?

(……)

Frau Meier, ich bin’s wieder. Die Verbindung war weg. Blöde Bundesbahn…“

Wie man ihm entgeht: In der 2. Klasse reisen.

 

Platz 2: Die Männerrunde

Reisen wird erst in der Gruppe richtig schön. Für das Wochenende auf dem Münchener Oktoberfest haben sich alle Kumpel zünftig in Schale geworfen. Das karierte Hemd spannt ein wenig um die Hüften, aber die Lederhose ist wirklich schick. Für die Fahrt nach München empfiehlt sich die Bahn, denn im Zug gibt es Bier. Da kann die lockere Runde schon einmal vorglühen. Die Herren haben Spaß, und das sollen alle hören. In dröhnender Lautstärke – schließlich muss die Musik aus dem tragbaren Musikrekorder übertönt werden – überbieten sich Peter, Schorsch und Kalle gegenseitig mit anzüglichen Witzen und Anekdoten früherer Feiern.

Wie man der Männerrunde entgeht: Nicht im Bordbistro reisen.

 

Platz 1: Das Damenkränzchen

Eine Gruppe Freundinnen in unüberhörbar bester Laune. Die Damen mittleren Alters sind vielleicht auf einem Wochenendausflug nach Berlin oder auf dem Weg in ein Wellnesswochenende im Allgäu. Die mitgeführte Gepäckmenge ist enorm, aber die überzähligen Koffer haben die patenten Damen kurzerhand im Klo verstaut. Zum Reiseproviant gehören alkoholische Getränke in größerer Menge, anders als bei den Männern aber kein Bier. Typischer Dialog:

Wortführerin: „Mädels, Zeit für Sekt. Wer will?“

Alle: „Alle!! Gudrun, du bist die Beste! Hast einfach an alles gedacht!“

„Pikkolöchen!“

„Stößchen!“

Wie man ihnen entgeht: Nicht in der 2. Klasse reisen

Wer kennt weitere Typen, die das Bahnfahren anstrengend machen? Ich freue mich über Ergänzungen. Die Kommentare sind offen.

 

Es ist kompliziert

Das Bezirksamt von Berlin-Köpenick hat zwei Aktfotos aus einer Ausstellung entfernt. Die betroffenen Hobbyfotografen werfen der Behörde Zensur vor. Die Empörung in Medien und Kommentaren ist groß und einhellig: Die Freiheit der Kunst werde mit Füßen getreten. Doch so einfach ist die Sache nicht. Die Entscheidung war richtig, aber nicht gut begründet.

Die Ausgangslage

Berliner Fotoclubs zeigen Arbeiten ihrer Mitglieder im Rathaus Köpenick. Im April 2016 stellen knapp 200 Amateurfotografen 330 ihrer Werke aus. Über die Auswahl der Fotografien entscheiden die Clubs. Nun hat das Kulturamt zwei Aktfotos aus der Ausstellung entfernen lassen. Einer der betroffenen Fotografen ist Wolfgang Hiob, dessen Clubmitglieder aus Solidarität alle Werke zurückgezogen hat. Die Empörung ist groß, nachzulesen etwa in der WELT, im Tagesspiegel und in den zugehörigen Kommentaren dort und auf Twitter.

Die Argumente der Behörde

Kulturamtsleiterin Annette Indetzki begründete den Schritt der Behörde doppelt. Erstens hätten sich Rathausmitarbeiterinnen und eine Bürgerin beschwert. Zweitens wolle man die religiösen Gefühle von Migranten nicht verletzen.

Die Argumente der Kritiker

Der kleine Bildersturm bringt viele Kommentatoren auf die Palme. Sie sehen die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit verletzt. Zudem opfere die Behörde im vorauseilenden Gehorsam für eine religiöse Minderheit westliche Freiheitswerte. Andere Kritiker bezeichnen die Entscheidung als rassistisch, da sie Muslimen eine Haltung unterschiebe – nämlich sich von Nacktheit im öffentlichen Raum abgestoßen zu fühlen -, die selber Stereotypen bediene.

Pin-ups in der Autowerkstatt

War es denn nun richtig, die Aktfotos zu entfernen? In meinen Management- und Ethikkursen diskutiere ich einen ähnlichen Fall. Dort sollen sich die Studierenden in die Rolle des Filialleiters eines Autohauses versetzen, bei dem sich eine Kundin sehr energisch beschwert. Sie fühlt sich sexuell belästigt. Der Grund: In der Werkstatt haben die Mechaniker großformatige Aktaufnahmen aufgehängt. Kunden können die Pin-up-Poster sehen, wenn sie den Wagen zur Inspektion bringen.

Einig sind sich die Studierenden stets, dass die Poster abgehängt werden müssen und der Filialleiter die Pflicht habe, umgehend dafür zu sorgen. In den Details gibt es interessante Variationen, so schlagen die Studierenden oft vor, dass die Mechaniker ihre Poster an einer anderen, für Kunden nicht zugänglichen Stelle wieder aufhängen dürfen. Aber alle sind sich einig, dass im Konflikt der Ansprüche das Recht der Kundin, sich nicht sexuell belästigt zu fühlen, den Vorrang hat. Wohlgemerkt selbst dann, wenn das Gefühl der Belästigung subjektiv ist und keineswegs von allen Frauen geteilt werden muss. Die Studierenden billigen in der Sache somit Frauen ein individuelles Vetorecht zu. Begründet wird es damit, dass die Kundin keine Möglichkeit hat, den Anblick der Aktposter zu vermeiden, es sei denn um den Preis, die Werkstatt zu wechseln.

Nun könnte die geneigte Leserin* argumentieren, die bis hierhin durchgehalten hat, dass es doch einen Unterschied mache, ob künstlerisch wertvolle Aktfotos oder aufreizende Ausklappbilder entfernt werden sollen. Dem möchte ich mit dem Argument begegnen, dass es in der Moderne unmöglich geworden ist, objektive Kriterien dafür anzugeben, was Kunst sei und was nicht. *Männer sind mitgemeint.

Versuch einer Bewertung aus ethischer Sicht

Eine freiheitliche Gesellschaft muss sich tatsächlich nicht von einer Minderheit in Geiselhaft nehmen lassen und sich deren Wertvorstellungen zu eigen machen. Es ist ja gerade der Wesenskern der Freiheit, es auszuhalten, dass andere Menschen eigene Geschmacks- und andere Urteile fällen, die unseren eigenen Wertvorstellungen nicht entsprechen. Der Schlüssel zur Lösung scheint mir aber in der Wahlfreiheit zu liegen.

Rathausmitarbeiterinnen und Besucher haben diese Wahlfreiheit nicht. Sie müssen im Rathaus ihrer Arbeit nachgehen oder ihre Behördengänge erledigen und können sich dem Anblick der Aktfotos nicht entziehen. Wie im Beispiel der Autowerkstatt gilt deshalb: Wenn sich jemand beschwert, müssen die Fotos weg. Mit Zensur hat das nichts zu tun. Es hängen nur Bilder am falschen Ort. Vielleicht zeigen die Berliner Fotofreunde ihre Werke nächstes Jahr in einem Museum. Dann sehen nur jene Betrachter die anstößigen Bilder, die das auch wollen.

Schafft die Noten ab!

Die Notenvergabe an der Hochschule vergiftet die Beziehung zwischen Studenten und Dozenten. Sie lenkt die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die falschen Dinge. Sie korrumpiert die Lehrenden. Auch die Arbeitgeber orientieren sich an den Abschlussnoten und gehen dabei in die Irre.

Für Eilige: Eine Kurzfassung des Beitrags erschien als Gastkommentar im ZEIT-Chancen-Brief vom 4.2.2016. Hier weiterlesen.

Wer in den späten 80ern ein Physikstudium absolvierte, dessen Diplomprädikat setzte sich aus fünf Einzelnoten zusammen – vier mündlichen Prüfungen und einer Diplomarbeit. In der Nach-Bologna-Ära bringt der Absolvent eines Bachelorstudiums knapp 30 Prüfungen hinter sich, deren Resultate alle in die Gesamtnote einfließen. Das macht die Noten zum Dreh- und Angelpunkt im studentischen Leben. Von Beginn an sind Studierende auf die Prüfungsleistungen fixiert. Einige setzen sich dabei selbst fürchterlich unter Druck. Schon eine verpatzte Prüfung kann existenzielle Sorgen auslösen. Ein „Befriedigend“ im ersten Semester wird da schnell zum Vorboten späterer Arbeitslosigkeit.
Während des Kurses kreisen die Gedanken mehr um die Prüfung als um den gemeinsam bearbeiteten Stoff. „Ist das prüfungsrelevant?“ ist die wohl häufigste Frage, die Dozenten hören. Vorausgesetzt, in der Prüfung wird nicht nur Lehrbuchwissen abgefragt, sondern es werden Kompetenzen getestet, wäre die ehrliche (aber selten gegebene) Antwort: Alles ist prüfungsrelevant, auch das, was die Studierenden außerhalb der Präsenzveranstaltungen lernen, und möglicherweise sogar Dinge, die gar nichts mit dem Studium zu tun haben.
Es gäbe eine einfache Maßnahme, um für mehr Entspanntheit und zugleich Konzentration im Studium zu sorgen: Schafft die Noten ab. Wohlgemerkt: Schafft die Noten ab, nicht die Prüfungen. Selbstverständlich haben die Studierenden einen Anspruch darauf, eine ehrliche Rückmeldung zu ihrem Leistungsstand zu erhalten. Feedback ist für das Lernen unverzichtbar. Aber ein Beurteilungsgespräch zwischen Dozent und Student wäre dafür weitaus ergiebiger, als eine dürre Note ohne weitere Erläuterungen verpasst zu bekommen. Selbst dann, wenn es eine sehr gute ist.
Ohne Noten fiele der Anreiz zur Kumpanei weg, dem überarbeitete Professoren erliegen. Über 80 Prozent der Studierenden an deutschen Hochschulen erzielen stets gute bis sehr gute Noten. Und es werden immer mehr. Dem Wissenschaftsrat ist diese Noteninflation schon lange ein Dorn im Auge. Die Experten im Beratergremium der Bundesregierung glauben nicht, dass die Studenten immer besser werden. Treiber der Inflation ist vielmehr eine unausgesprochene Verabredung zwischen Dozent und Student nach dem Motto: Ich gebe dir eine gute Note, dafür lässt du mich bitte in Ruhe. Der Autor weiß aus vielen Jahren des Lehrens an Hochschulen, dass es Kraft kostet und die Redlichkeit strapaziert, der Versuchung zu widerstehen. Es wäre aber eine Menge gewonnen, wenn der Widerstand nicht nur aus der inneren Haltung des Hochschullehrers und seiner (oder ihrer) ethischen Grundüberzeugung heraus geleistet werden müsste. Wenn die Beurteilung der Studienleistungen von vornherein in Form von Feedbackgesprächen oder kleinen Gutachten erfolgt, ist das Problem der zu guten (und damit im Grunde unfairen) Benotung aus Faulheit einfach verschwunden.
Ich höre schon die Einwände: Was für ein Aufwand! Stimmt. Aber starke und schwache Studierende machen dann immerhin gleich viel Arbeit. Und clevere Dozenten werden die Beurteilung in die Lehrveranstaltung integrieren. Dann hält sich die Zusatzarbeit in Grenzen.
Zeugnis ohne Noten? Woran sollen sich die Arbeitgeber halten? Richtig ist, dass die Examensnote einmal im Berufsleben eine wichtige Rolle spielt, nämlich zu dessen Beginn. Später punkten Kandidaten in Bewerbungsverfahren mit nachgewiesenen beruflichen Erfolgen und im Job gezeigten Qualitäten. Doch die Examensnote ist nur eine Hilfsgröße. Unternehmen orientieren sich an ihr, weil die Bewerber noch wenig anderes vorzuweisen haben.
Anders herum wird deshalb ein Schuh draus: Wenn es keine Noten mehr gibt, werden andere Merkmale wichtig: die Dauer des Studiums, inner- und außeruniversitäres Engagement, Praktika. Das Plädoyer gegen Noten geht außerdem nicht so weit, Examenszeugnisse ohne Beurteilung auszustellen. Künftig gehört zum Zeugnis ein Kurzgutachten. Darin bündelt die Hochschule das Feedback, das die Studierenden über das ganze Studium hinweg erhalten haben.
Schon heute wird zum Zeugnis ein umfangreiches Diploma Supplement mitgeliefert, das die Studieninhalte und –umfänge detailliert auflistet. Künftig kommt ein Referenzschreiben hinzu, das über Kompetenzen und Fähigkeiten eines Absolventen Auskunft gibt und ähnlich aufgebaut wäre wie ein Arbeitszeugnis oder eines der Gutachten für Stiftungen und Begabtenförderwerke, die Dozenten ihren Studierenden schon heute dutzendfach ausstellen. Verwirklichungschance der Idee? Gering. Aber es tut gut, einmal darüber nachgedacht zu haben.

Über das Gastrecht und seine Grenzen

„Wer sein Gastrecht missbraucht, hat sein Gastrecht verwirkt.“ Seit den Ereignissen der Silvesternacht 2015 eint der Satz das politische Spektrum Deutschlands von links bis rechts. Am Kölner Hauptbahnhof hatten Gruppen von jungen ausländischen Männern Frauen auf widerlichste Weise bedrängt und sexuell genötigt. Es zeichnet sich ein überparteilicher Konsens ab, Flüchtlinge und Ausländer schneller aus dem Land zu werfen als bisher, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder die Werte einer freiheitlichen Gesellschaft mit Füßen treten. Man darf annehmen, dass es unter den Deutschen dafür eine breite Mehrheit gibt. Auch der Autor ertappt sich dabei, wie seine gefestigte linksliberale und fremdenfreundliche Gesinnung zu bröckeln beginnt.

Wie geht man mit Gästen um, die sich nicht zu benehmen wissen? Die Bilder im Kopf sind mächtig. Da lädt man die neuen Bekannten zum Abendessen ein. Der Tisch ist nett dekoriert, vielleicht brennt auch eine Kerze, die Gastgeber haben sogar die störrische Tochter bewegen können, dabei zu sein. Doch kaum sind die Gäste da, pöbeln sie herum, machen anzügliche Sprüche, betatschen Tochter und Ehefrau und versuchen, das Tafelsilber mitgehen zu lassen. Was tut man da? Der Hausherr schmeißt die Leute raus und sorgt dafür, nie mehr etwas mit ihnen zu tun zu haben. So ähnlich soll es jetzt den straffälligen Flüchtlingen ergehen. Dagegen ist doch nicht zu sagen, oder?

Ein kleines Aber möchte ich anbringen, auch gegen die eigene Wut und Empörung. Darf man die üblen Gäste immer und unter allen Umständen rauswerfen? Was wäre, wenn draußen ein Wintersturm tobte und die Leute erfrören? Vielleicht sperrt man sie dann doch lieber in den Keller.

Zurück zu den Flüchtlingen. Strafe muss sein. Aber sie muss zu den uns eigenen rechtsstaatlichen Bedingungen erfolgen. Und wir sollten Menschen nicht dorthin abschieben, wo ihnen Folter und Tod drohen. Sonst geht mehr kaputt als die weltoffene Haltung einer Nation. Dann hätten wir unsere humanistischen Werte selber zerstört und mehr Schaden angerichtet, als es ein enthemmter Mob einiger hundert Männer je tun könnte. Über zusätzliche und vorbeugende Freiheitsbeschränkungen wie Residenzpflicht und strenge Meldeauflagen für verurteilte ausländische Straftäter könnte man aber nachdenken. Kühlen Kopf und ein warmes Herz zu bewahren, das sind wir uns selbst und den Hundertausenden unbescholtener Flüchtlinge schuldig.

Das Gift des Kriegsgeschreis

Die Rede vom „Krieg gegen den Terror“ lenkt das Denken in eine grässliche Sackgasse. Das war nach dem Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Centers so. Und es geschieht nach den Terroranschlägen von Paris erneut. Gedanken, ausgelöst durch eine E-Mail aus dem September 2001.

Meine Frau grub über den Jahreswechsel in alten Erinnerungen. Sie fand eine E-Mail vom 13. September 2001. Darin fragte sie: „Sind wir jetzt im Krieg?“ Zwei Tage waren seit der Terrorattacke auf das World Trade Center vergangen, dreitausend Menschen tot. US-Präsident George W. Bush hatte bereits seinen Krieg gegen den Terror ausgerufen, Bundeskanzler Gerhard Schröder dem US-amerikanischen Volk die uneingeschränkte Solidarität der Deutschen erklärt. Ich schrieb eine beruhigende Antwort. Krieg fände zwischen Staaten statt. Davon seien wir weit entfernt. Terroristen ließen sich nicht mit Panzern oder Kampfflugzeugen bekämpfen, vielmehr sei es Sache von Polizei, Geheimdiensten, Anklagebehörden und Gerichten, Terrorgruppen entgegenzutreten, die die freie Welt bedrohten. Ich habe mich damals sehr geirrt. Und ich hatte vollkommen recht.

Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Das Reden in Begriffen des Krieges vergiftete das Denken der Politiker. Die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten begannen tatsächlich, Krieg zu führen. Dabei warfen sie elementare Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft ebenso über Bord wie die Menschenrechte und die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates.

Es war völlig vergeblich. Die Bilanz ist verheerend:

  • Die US-Regierung ließ Terroristen und Menschen, die sie für Terroristen hielt, fangen, foltern und einsperren. Ohne Anklage und Prozess. Bis heute. Seither verbitten sich autokratische Herrscher jeder Färbung frech jede westliche Einmischung. Im Lager Guantanamo sitzen noch immer über 100 Gefangene.
  • Friedensnobelpreisträger Barack Obama lässt einen Drohnenkrieg führen. Ferngesteuerte bewaffnete Flugobjekte töten Terrorverdächtige aus der Luft – oder solche, die (teils dubiose) Geheimdienste dafür halten. Die Zahl der Toten in Afghanistan und Pakistan, wo die meisten Drohnenangriffe stattfinden, ist unklar. Klar ist, dass Millionen Menschen im Schatten des Todes leben müssen und Hunderte, wenn nicht Tausende Unbeteiligter starben. Und sterben. Mit jedem toten Kind, jeder toten Frau und jedem ohne Prozess getöten Terroristen tötet der Westen auch seine Werte. Genährt wird nur der Hass.
  • Die gewaltigen Militäraktionen des Westens im Irak und in Afghanistan haben Milliarden Dollar verschlungen und Zehntausende Leben gekostet. Erreicht haben sie nichts. Die Welt ist nicht sicherer, der Terror nicht schwächer. Stattdessen gibt es im Nahen und Mittleren Osten drei zerfallende Staaten, Syrien muss man mitzählen, in denen der Krieg aller gegen alle gut gedeiht.

Ich hatte also recht: Der Krieg gegen den Terror funktioniert nicht. Und ich habe mich geirrt: Er wird dennoch geführt. Hätten nüchternere Staatenlenker, als George W. Bush einer war, die Rede vom Krieg vermieden? Hätte die Geschichte einen anderen Pfad genommen, wenn sich die freie Welt zur entschlossenen Verteidigung ihrer Werte bekannt hätte? Dann wäre womöglich die Selbstermächtigung unterblieben, ohne Skrupel Unschuldige zu opfern, den Rechtsstaat und die eigenen Werte mit Füßen zu treten.

Wut und Trauer machen blind. Wir lernen nichts. Der französische Präsident Francois Hollande hat nach den Anschlägen von Paris im November 2015 dem Terrorismus den Krieg erklärt, wie Bush es 2001 tat. Die französische Luftwaffe wirft Bomben auf Syrien. Wer nur einen Hammer hat, für den wird jedes Problem zum Nagel. Die Geschichte wiederholt sich. Erst als Tragödie, dann als Farce.*

 

*Im Original ein Zitat von Karl Marx: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, Berlin 1972, S. 115. Online hier.